LITERATUR GEGEN Gewalt und Extremismus Autorinnen und Autoren unseres Verlages
wenden sich gegen extremisches Gedankengut und Handeln.
Ein ganz legaler Mord Aus: „Die Mörder sitzen in der Oper“
(Kurt Müller)
Ehrsen
ist ein kleines Dorf in Lippe, das heißt, es war zu dem Zeitpunkt ein solches,
als sich die nachfolgend erzählten Geschehnisse ereigneten. Heute ist das Dorf
ein Stadtteil von Bad Salzuflen und das ehemals dörfliche Leben gehört längst
der Vergangenheit an. Es gibt eine Zeit, die viele Menschen gern aus ihrem
Gedächtnis streichen würden. Dazu muss gesagt werden, dass nur noch wenige
Zeitzeugen, die bewusst das unbegreifliche Ereignis des Jahres 1941 erlebt
haben, unter den Lebenden weilen.
In Lippe gab es viele Gefangenenlager, die
Kriegsgefangenen wurden allerdings je nach Nationalität unterschiedlich behandelt.
Franzosen und Engländer, später auch Amerikaner und Italiener, hatten einen anderen
Status als Polen und Russen. Die Letztgenannten galten als minderwertig, die
Russen allerdings erst, nachdem Hitler die Sowjetunion überfallen hatte.
Stefan Bolewski war bei Warschau in deutsche Kriegsgefangenschaft
geraten. Er stammte aus der Gegend von Posen und war in seiner Kindheit deutscher
Staatsbürger. Wie alle Kriegsgefangenen wurde er umgehend nach Deutschland
gebracht um den Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft zu lindern.
Im
Spätherbst des Jahres 1939 kam Stefan Bolewski nach Lippe und wurde zusammen
mit anderen Landsleuten im Saal eines Gasthauses untergebracht. Die Bauern
waren in erster Linie daran interessiert, dass die Gefangenen gute Arbeit leisteten.
Rassenvorurteile waren den meisten von ihnen fremd.
Im Sommer des Jahres 1940 wurde Stefan Bolewski
formell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in den Status eines
Zivilarbeiters versetzt. Das hieß jedoch nicht, dass er sich frei bewegen
durfte, außerdem waren Arbeitskräfte wie er verpflichtet, auf unbegrenzte Zeit
im Deutschen Reich zu arbeiten. Das bedeutete, dass sie rechtlose Sklaven waren,
die Pflichten, aber keinerlei Rechte hatten. Der deutschen Bevölkerung war es
in ihrer Mehrheit völlig gleichgültig, wie mit den Menschen umgegangen wurde.
Die Nazipropaganda war unablässig bemüht, den Leuten weiszumachen, dass die Polen
selbst an ihrem Schicksal schuld seien. Dazu trugen Hetzfilme von der übelsten
Sorte bei, in denen die polnische Bevölkerung als durchweg bösartig und grausam
dargestellt wurde.
Es wurde viel gestorben in jener Zeit, und den Nazis
kam es auf einen Mord mehr oder weniger nicht an. Dabei spielten die
staatlichen Organe wie Polizei und Justiz, sowie Rundfunk und die Presse eine
nicht unerhebliche Rolle.
Denunziantentum wurde zur Tugend erhoben und nahm die
ungewöhnlichsten Formen an. Wer Auslandssender hörte und dabei ertappt wurde,
musste mit drakonischen Strafen rechnen. Ja, es gab Fälle, wo Menschen wegen
eines politischen Witzes in ein Konzentrationslager gesteckt wurden.
Im Sommer 1940 erhielt Stefan Bolewski auf dem Bauernhof,
wo er beschäftigt war, eine eigene Kammer. Das war für ihn schon eine
erhebliche Verbesserung seiner Lebensumstände. Allerdings musste er sich streng
an die Verordnungen halten, die den polnischen Zwangsarbeitern auferlegt waren.
Ihnen wurden rigoros die elementarsten Menschenrechte vorenthalten.
Sie sollten, wenn es nach den Vorschriften ging, nicht
einmal mit den Bauern, bei denen sie arbeiteten, an einem Tisch essen; es
sollte sogar extra für sie gekocht werden, was sich in der Praxis jedoch in den
seltensten Fällen verwirklichen ließ. Stefan Bolewski war mit der Behandlung
auf dem Bauernhof, dem er zugewiesen wurde, recht zufrieden. Er hatte manche
Vergünstigung und die Verpflegung war der schweren Arbeit angemessen. Wie alle Gefangenen
träumte er von den Eltern und Geschwistern, von der Rückkehr in die Heimat.
Eines Tages würden die Deutschen mit dem Krieg aufhören, dabei war es ihm
gleichgültig, ob seine Heimat zu Polen oder Deutschland gehören würde.
Den elterlichen Hof würde er übernehmen und
wirtschaften wie seine Vorfahren, die deutsche Staatsbürger waren. Solange,
sagte er sich, werde ich arbeiten und mir nichts zuschulden kommen lassen. Der
Bauer war mit ihm und seiner Leistung zufrieden, und weil Stefan Bolewski eine
gute Auffassungsgabe hatte, lernte er schnell viele deutsche Begriffe.
Auf dem gleichen Hof war eine deutsche Landarbeiterin
beschäftigt, deren Mann zur Wehrmacht eingezogen war, sie hatte zwei Kinder.
Elisabeth und Stefan sahen sich fast täglich bei der Feldarbeit, sie gefiel
ihm, er gefiel ihr. Zunächst aber dachten beide nicht daran, dass zwischen
ihnen eine Liebesbeziehung entstehen könnte. Beide waren jung und hatten ein
Bedürfnis nach Zärtlichkeit, nach Liebe. Sie wussten auch beide, dass eine
Beziehung zwischen einer deutschen Frau und einem polnischen Zwangsarbeiter von
den Nazis nicht gern gesehen wurde, waren sich aber nicht bewusst, welche Folgen
das haben könnte.
Zuerst waren es verstohlene Blicke, die sie miteinander
tauschten. Irgendwann geschah es, dass sich bei der Arbeit ihre Hände berührten.
War es Zufall, oder Absicht - ? Er fasste ihre Hand und drückte sie zärtlich.
In dieser Berührung lag alle Zuneigung, die sie füreinander empfanden.
An
einem Abend, nachdem Elisabeth ihre Kinder zu Bett gebracht hatte, trafen sie
sich hinter der Scheune. Sie hatten sich vergewissert, dass niemand sie
beobachtete. Auf einer Strohschütte ließen sie sich nieder und gaben sich
einander hin. Elisabeth hatte ihm klargemacht, dass aus ihrem Liebesverhältnis
kein Kind entstehen dürfe.
Sie gaben sich alle Mühe ihr Verhältnis geheim zu
halten, aber einmal kam Bauer Kamp dazu, als sie sich küssten. Erschrocken
fuhren sie auseinander.
Dem Bauern war das im Grunde gleichgültig, er
fürchtete nur Unannehmlichkeiten. Eindringlich machte er ihnen klar, dass es in
der Nachbarschaft Leute gäbe, die nur darauf warteten, ihm eins auszuwischen.
Stefan war bei den meisten Leuten im Dorf beliebt und galt als feiner Kerl, das
schloss heimliche Missgunst nicht aus.
Bauer Kamps Befürchtungen sollten sich letztendlich
als begründet erweisen. Eines Tages fuhr ein Wagen der Geheimen Staatspolizei
auf den Hof und Elisabeth Linke und Stefan Bolewski wurden verhaftet. Ein
Nachbar, der dem Bauern Kamp schaden wollte, hatte sie angezeigt. Wahrscheinlich
spielte auch eine gewisse Eifersucht eine Rolle, die Frau hätte, wenn sie schon
liebesbedürftig war, sich nicht mit einen polnischen Zwangsarbeiter abgeben dürfen.
Die Nazischergen warfen Stefan Bolewski vor, als Fremdvölkischer
ein Liebesverhältnis zu einer deutschblütigen Frau unterhalten zu haben. Elisabeth
Linke hingegen wurde des Geschlechtsverkehrsverbrechens angeklagt. Schon allein
dieses Wort-Ungetüm ist aus späterer Sicht nicht nachvollziehbar. Die Geheime
Staatspolizei empfahl dem seit 1940 in Bielefeld eingerichteten Sondergericht
die Sonderbehandlung, … des Polen und für Elisabeth Linke die Einweisung in ein
Konzentrationslager.
Im
Dorf sprach sich die Verhaftung der beiden in kurzer Zeit herum, aber kaum
einer wagte die Maßnahme zu kritisieren. Nur hinter vorgehaltener Hand äußerten
einige Leute ihr Unverständnis. ‚Was soll sie denn machen, wo so viele Männer
im Felde sind und ein hübscher Kerl ist er auch, der Stefan!’
Was Sonderbehandlung, … hieß, hatte Reichsführer SS,
Heinrich Himmler vorgegeben, und die Justiz verfuhr in seinem Sinne. Was Stefan
Bolewski während seiner Haft in Bielefeld erdulden musste hat niemand erfahren.
Fest steht, dass man Elisabeth Linke wie auch Stefan Bolewski ein Geständnis abpresste,
ganz nach Gestapo-Manier.
Der Höhepunkt dieser Tragödie war die Aburteilung der
beiden jungen Menschen. Stefan Bolewski wurde zum Tode verurteilt, Elisabeth
Linke zu einer Haftstrafe von vier Jahren in einem Konzentrationslager. Alles
das konnte nur geschehen, weil der größte Teil der Bevölkerung dem Unfassbaren
gleichgültig gegenüberstand. Den Menschen fehlte die Phantasie sich
vorzustellen, was da eigentlich geschah. Zwei Menschen wurden für etwas verurteilt,
was ein natürliches Bedürfnis ist. Was ging vor in den Köpfen der Richter?
Der
28. Juli 1941 war ein ungewöhnlich heißer Tag, die Bauern waren mit der
Roggenernte beschäftigt.
Früh am Morgen holten zwei Gestapo-Männer Stefan
Bolewski aus der Zelle, sie fesselten ihn sorgfältig. „Es ist soweit!“, sagte
einer der beiden und machte die Gebärde des Aufhängens. Über die Wochen seiner
Haft hatte sich Stefan Bolewski der trügerischen Hoffnung hingegeben, es würde
sich alles zum Guten wenden. Ständig hatte er gebetet, Gott möge ihm gnädig
sein und vor dem Tod bewahren. Nun begriff er, dass alles Beten und Hoffen
vergeblich gewesen war, er war verloren.
Er dachte an seine Eltern, würden sie von seiner
Hinrichtung erfahren? Und er dachte auch an Elisabeth, würde sie mit dem Leben
davonkommen? Während seiner Haft hatte er nicht die geringsten Auskünfte
erhalten, schon der Ansatz einer Frage wurde mit den Worten abgetan: „Was
willst du polnisches Schwein? Du darfst zuhören und parieren, mehr nicht!“
Während der Fahrt von Bielefeld nach Ehrsen, mit zwei
begleitenden Fahrzeugen, sprachen die Gestapo-Leute von sich aus nicht ein
einziges Wort mit ihm. Stefan Bolewski wusste, dass es kaum Sinn haben würde
eine Frage zu stellen. Trotzdem sagte er zaghaft: „Wo ist Elisabeth Linke?“
Einer der beiden Beamten lachte: „Die ist dort wo sie
hingehört, im Konzentrationslager! Verstehen?“ Der andere Beamte brummte: „Was
gibst du dich mit dem Pollack ab.“ Von diesem Moment an sprachen die beiden
Gestapo-Leute kein Wort mehr, sie waren sich offenbar nicht grün.
In Ehrsen angekommen fuhr die Wagenkolonne auf den Hof
einer Tischlerei. Der Tischlermeister hatte schon vor Tagen von den
Justizbehörden die Weisung bekommen einen Sarg und einen Galgen anzufertigen;
der Auftrag hatte den Meister sehr erfreut. Es war das erste Mal in seiner
Firmengeschichte, dass er einen Galgen zimmern musste. Er arbeitete sogar einige
Stunden länger, um nicht in Zeitverzug zu kommen. Sarg und Galgen wurden vor
den Augen Stefan Bolewskis auf das zweite Fahrzeug geladen. Zu diesem Zeitpunkt
hatte er sich bereits mit dem Gedanken an den Tod vertraut gemacht, er dachte
an seine Kindheit im Kreis der Eltern und Verwandten. Vor seinen Augen entstand
das Bild von seiner Erstkommunion, als er mit der Kerze in der Hand die Kirche betrat.
Er träumte einen Traum, in dem das, was hier um ihn vorging,
nicht der Wirklichkeit entsprach. Das konnte nicht wahr sein, was diese fremden
Menschen mit ihm machten, wer gab ihnen ein Recht dazu... Nicht einmal die
Gelegenheit zu einer Beichte hatten sie ihm gewährt.
Der Gestapo-Mann ließ den Motor an und die traurige Prozession
setzte sich in Bewegung. Leise sprach Stefan Bolewski immer wieder das Vaterunser.
Die Beamten verstanden wohl anscheinend, dass es sich um ein Gebet handeln
musste, denn sie ermahnten ihn nicht. Vielleicht hatten sie einen letzten Rest
von religiösem Empfinden.
Die Kolonne bewegte sich durch das Dorf, es war kein
Mensch auf der Straße zu sehen, obgleich die Leute wussten, welche Tragödie
sich abspielen sollte. Die Nazis wollten um jeden Preis ein Signal setzen,
nicht nur für die Zwangsarbeiter, sondern auch für die Deutschen. In den
umliegenden Ortschaften hatte sich die Nachricht von der bevorstehenden
Hinrichtung herumgesprochen. Neugierige strömten von allen Seiten zur
Richtstätte, ein Steinbruch in der Nähe des Ortsteils Breden. Was fasziniert Menschen,
die ganz normal denken und fühlen, an so einem grausigen Schauspiel?
Parteibonzen in ihren Uniformen sperrten die Zufahrt
in den Steinbruch ab, nachdem die Fahrzeuge durchgefahren waren.
Einige Leute hatten Bäume erklettert um die Hinrichtung
beobachten zu können. Wer weiß was in den Menschen vorging, war es nur die Zeit
und die Stimmung in jenen Kriegstagen, die sie unempfindlich für fremdes Leid
machten?
Ohne Eile wurde der Galgen im Beisein des Verurteilten
errichtet, ohne sichtbare Erregung verfolgte er die Vorbereitungen für seine
Hinrichtung. Wie geistesabwesend stand er da, was einen der Parteibonzen zu der
Frage veranlasste: „Hat der denn gar kein Gefühl?“
Um 16 Uhr am 28. Juli 1941 wurde Stefan Bolewski ermordet.
Ob seine Eltern je davon erfuhren, ist nicht zuverlässig belegt, jedenfalls
gibt es keinen Hinweis darauf.
Bekannt ist, dass man etwa 100 polnische Zwangsarbeiter
an dem Toten vorbeiführte, um ihnen ein abschreckendes Beispiel zu zeigen.
Weder die Mörder noch der Denunziant wurden nach Kriegsende zur Verantwortung
gezogen, Protokolle über Vernehmungen sind verschwunden.
Wie ein Hohn liest sich die Sterbeurkunde für Stefan
Bolewski, wo von einer Schreibkraft in akkurater Handschrift vermerkt ist: ‚Der
Verstorbene war geboren am 2. August 1911 in Bodzieschewo in Polen, Religion
unbekannt, Vater unbekannt, Mutter unbekannt. Der Verstorbene war nicht
verheiratet.’
Elisabeth Linke kehrte nach der Befreiung aus dem
Konzentrationslager nach Ehrsen zurück. Wie sie die Geschehnisse der
zurückliegenden Jahre innerlich bewältigte, weiß niemand. Sie hat wohl auch
keinen Antrag auf Entschädigung für das erlittene Unrecht gestellt. In der
Familie wurde über die Ereignisse des Jahres 1941 und die Jahre der KZ-Haft nie
gesprochen.
Werner Linke kam nach der Kriegsgefangenschaft zurück
in sein Heimatdorf. Aus der Ehe ging 1948 noch ein Kind hervor. Die Eheleute
Linke sind schon einige Jahre tot und auf dem Friedhof in Ehrsen begraben.
Sucht man nach dem Grab von Stefan Bolewski, man wird
es nicht finden...
* * * * *
Eine
Rose für die Deutschen
Aus: Eine Rose für die Deutschen - Elend und Glanz nach der
Übersiedlung (Alexander Richter / Zweite Auflage in Vorbereitung)
Die Tamilen, denen ich hin und wieder
begegnete, sahen für mich alle gleich aus. Wenn sie in Schöneberg vor dem Rathaus
standen, konnte ich den einen kaum vom anderen unterscheiden. Trotzdem, den,
der abends immer mit den Rosen durch die Kneipen ging, kannte ich nach einigen
Wochen. Irgendein Blumenhändler hatte ihn gedungen. Ein Deutscher war für
diesen Job wahrscheinlich nicht zu haben gewesen. Das Geschäft ging wirklich
miserabel. Und welcher Deutsche schlug sich für drei Mark oder noch weniger
mehrere Stunden um die Ohren?
Der Tamile
sprach nie ein Wort. Wie auch, da er der deutschen Sprache kaum mächtig war. Er
ging in den Kneipen von Tisch zu Tisch und bot per Geste seine Rosen an. Verkaufen
konnte er in der Regel nichts. Die Leute, die Deutschen, brauchten ihr Geld
schließlich für Wein und Bier. Und fürs Essen. Und wenn man an die Mieten
dachte, an die Benzinpreise, an die Energiekosten, an die Urlaubsreisen oder an
die teuren Kindersachen. Also nein, Kopfschütteln.
Oft genug wurde
über den Tamilen und seine Rosen einfach hinweggesehen. So, als gebe es ihn
nicht. Eine einfache, aber wirksame Lösung, um sich den unerwünschten Verkäufer
abzuwimmeln.
Ich für meinen
Teil machte da keine Ausnahme. Allerdings, ich kam mir immer ziemlich schäbig
vor, nachdem ich das schmächtige Kerlchen mit meinem „Nein, danke“ abgewehrt
hatte. Ich entschuldigte mich vor mir selbst mit meiner eigenen Armut, mit den
wenigen Wochen, die auch ich erst in West-Berlin lebte. Und wirklich hielt ich
mich ja mitunter eine ganze Stunde an einem Glas Bier fest.
Immerhin, alle
zwei bis drei Wochen, bin ich doch mal essen gegangen. Am liebsten am Freitagabend.
Mal beim Griechen, mal beim Italiener, mal beim Jugoslawen, den es damals unter
dieser Nationenbezeichnung noch gab und der noch nicht „Balkanstube“ hieß. In
die deutschen Kneipen ging ich selten, hauptsächlich der höheren Preise wegen.
Den Tamilen traf
ich, wie gesagt, jedes Mal. Er mich. Still und unauffällig huschte er durch die
Tür. Wie ein Schatten. Ging von Tisch zu Tisch. Hielt den Leuten in einer Art
stummer Ergebenheit den Rosenstrauß hin. An den Tischen, an denen gegessen
wurde, blieb er immer ein paar Augenblicke länger als gewöhnlich stehen. Ein
voller Magen, der Geruch von Gegrilltem stimmt die Leute zugänglich, wird er
sich gedacht haben. Aber das Völlegefühl der Deutschen entsprach seinen
Erwartungen nicht allzu oft. Kann es sein, dass es sich in Selbstzufriedenheit
erschöpft? Oder in Dankbarkeit an sich selbst? So dass rote Rosen überflüssig
sind? Von milden Gedanken an die Mitwelt gar nicht zu reden.
Man hätte
eigentlich annehmen müssen, der Tamile, wenn er eines Tages wirklich mal eine
Rose verkaufen sollte, würde das vor Verwunderung nicht fassen. Eine Welt, wenn
auch keine heile, müsste für ihn zusammenbrechen.
Aber ich
vermutete falsch. Als ich eines Abends im jugoslawischen Restaurant Zeuge
wurde, wie der Tamile in der Tat eine Rose verkaufte, war ich überraschter als
er selbst. Still, geradezu demütig steckte er sein Geld weg und ging zum
nächsten Tisch.
Ich sah mir die
Leute an, bei denen die Rose geblieben war. Ein junges Paar, etwa zwanzig. Ach
so, ich hatte die beiden schon gesehen. In Marienfelde, im Durchgangslager. Sie
stammten genau wie ich aus der ddr. Dort kannte man keine abendlichen
Rosenverkäufer. Und keine griechischen oder jugoslawischen Pinten. Wohnheime
für Tamilen und andere Asylsuchende aber auch nicht. Überhaupt hatte es kaum Ausländer
im Alltag dort.
Der Tamile
machte weiter seine Runde. Verkaufte nun nichts mehr. Auch bei mir nicht. Ich
aß an diesem Freitag ohnehin teurer als gewohnt. Pola Pola anstatt Leber. Als
er neben mir stand, machte ich mir an meinem Essen zu schaffen und schüttelte
den Kopf, ohne ihn anzusehen.
Einer Dame am
Nebentisch sagte Pola Pola auch sehr zu. „Das schmeckt mir so gut, dass ich mir
bestimmt noch eine Portion bestellen werde. Muss ja nicht das gleiche Essen
sein“, schwärmte sie. Und: „Eine gute Idee, am Anfang des Wochenendes gut zu
essen.“ Den Tamilen, der mit seinen Rosen vor ihrem Tisch stand, übersah sie
einfach. Und ihr Begleiter gab dem stumm Wartenden durch ein unwilliges
Kopfschütteln zu verstehen, dass hier kein Bedarf an Rosen bestünde, nie
bestehen würde.
Der Tamile
schlich schüchtern davon. Zum letzten Tisch in diesem Lokal. Dort saß ein
einzelner Mann. Vor vollem Teller, halbvollem Glas mit einem gelben Getränk,
bei dem es sich unzweifelhaft um Bier handelte. Man konnte seinem Gesicht
ansehen, dass er sich durch den dunkelhäutigen Rosenverkäufer enorm
herausgefordert fühlte. Aber er hatte gerade einen zu großen Bissen Fleisch im
Mund, um sich über den Rosenverkäufer entsprechend empören zu können. Er musste
den Tamilen notgedrungen einige Augenblicke warten lassen, ehe er mit immer
noch vollem Mund wütend auf ihn einreden konnte: „Was soll ich denn mit Rosen?
Du siehst doch, dass ich hier allein sitze! Soll ich mir vielleicht selbst
Rosen schenken?“
Der Tamile zog
still weiter. Er hatte nicht verstanden, was der Mann soeben gesagt hatte.
Hatte nur begriffen: Der Kauende wollte keine Rose. Das war wahrlich nichts
Außergewöhnliches.
Der Mann
hingegen schimpfte weiter. Er hatte den Rest seines Bissens hinuntergewürgt,
einen tiefen Zug vom Bier genommen. Rief nach dem Wirt, dem Jugoslawen. „Warum
lassen Sie den denn hier rein?“
Der Wirt stand
unbeholfen vor dem Gast. Ein junger dunkelhaariger Mensch mit gebräuntem
Gesicht.
„Der verdient
sich doch hier ’ne goldene Nase! Als Asylant. Wissen Sie, was so einer jeden
Monat vom Senat bezahlt kriegt? Was dieses ganze Gesocks kriegt?“ Er starrte
den Wirt mit wissenden Augen an. „Achthundertfünfzig Mark! Von unseren
Steuergeldern!“
Der Wirt bewegte
verlegen die Achseln. Machte vorsichtig einen unbeholfenen Schritt zurück. Eine
unangenehme Situation für ihn.
„Und dabei haben
die hier auch noch alles umsonst. Unterkunft und Verpflegung, Klamotten! Öffentliche
Verkehrsmittel und Krankenversicherung sowieso. Und für richtige Arbeit sind die
sich zu sowieso zu schade. Dieses ganze Pack.“ Der Mann schüttelte unwillig den
Kopf, spießte dann ein Stück schwarzbraun gegrilltes Fleisch auf die Gabel. Es
war nichts Auffälliges an ihm, nichts, das ihn vom oft zitierten Mann auf der
Straße abhob. Er konnte genauso Schalterbeamter bei der BVG wie Lehrer oder
Handwerker oder Bademeister sein. Er betrachtete kurz das Fleisch, stopfte es dann
ohne Hast in den Mund. Und während er zu kauen begann, deutete er dem Wirt, der
sich inzwischen einen weiteren Schritt entfernt hatte, an, dass er noch ein
Glas Bier wolle. Sprechen konnte er wegen des vollen Mundes schon wieder nicht.